Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki – Haruki Murakami
Murakami hat wieder zugeschlagen und die Kritiker der einschlägigen Klatschspalten auf Deutschlands Feuilleton-Seiten überschlagen sich vor Freude – gleichzeitig in die Hände klatschend und mit den Zehen wackelnd! Und wenn es darum geht, die von Murakami verwendete Symbolik zu interpretieren, werden ganze Reihen an geistigen Purzelbäumen, vorwärts und rückwärts hingelegt, bis selbst dem geduldigsten Leser schwindlig wird. Aber jetzt lieber zum Buch:
Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki – Haruki Murakami
Genau genommen ist das Buch schon im letzten Jahr im Original auf Japanisch erschienen. Die deutsche Übersetzung durch Ursula Gräfe wurde vor wenigen Tagen vom DuMont-Verlag veröffentlicht.
Fünf Freunde, drei Jungen und zwei Mädchen wachsen in Nagoya, heute eine Millionenstadt an der pazifischen Küste Japans, auf. Eine unzertrennliche Clique. Sie betätigen sich in ihrer Freizeit in einer von der katholischen Kirche initiierten Freizeiteinrichtung für Kinder.
Vier dieser Jugendlichen tragen eine Farbe im Nachnamen und rufen sich auch mit dieser Farbe. Rot, blau, weiß und schwarz. Nur der fünfte, Tsukuru hat in seinem Familiennamen keine Farbe, weshalb er von den anderen der farblose Tsukuru genannt wird. Nach der Schulzeit beschließt Tsukuru nach Tokyo zu gehen, dort eine spezielle Art des Ingenieurwesens und der Architektur zu studieren: Der Bau von Bahnhöfen.
Im zweiten Studienjahr geschieht das für Tsukuru Unfassbare. Die Gruppe verstößt ihn. Ohne Begründung wird ihm mitgeteilt, dass er keines der Gruppenmitglieder jemals wieder kontaktieren darf.
Für Tsukuru bricht eine Welt zusammen. In eine schwere Depression gestürzt, steht er kurz davor Selbstmord zu begehen, geht diesen Weg dann aber doch nicht zu Ende. Er erholt sich, doch ein dumpfer Schmerz bleibt zurück.
Als er 16 Jahre später die zwei Jahre ältere Frau Sara kennenlernt, merkt diese, dass in Tsukuru noch einige dunkle Schatten darauf warten ans Licht gebracht zu werden. Bevor sie sich auf eine engere Beziehung mit ihm einlassen kann, muss sich Tsukuru zunächst seiner Vergangenheit stellen. Und so beschließt er nach Nagoya zurückzukehren, seine alten Freunde aufzusuchen und eine Erklärung für den Ausschluss aus der Gruppe zu verlangen. Schon bald bemerkt er, dass ein grausames Verbrechen die Ursache für die Abkehr seiner Freunde von ihm war.
Niemals „Nein“ sagen
Ich denke Murakami greift mit seinem Buch ein wichtiges Thema der japanischen Gesellschaft auf: Die Bevorzung einer gleichförmige Gruppendynamik im Gegensatz zu der sich aus der Masse herausragenden Individualität eines Einzelnen.
Japanische Menschen lieben Harmonie in ihren Beziehungen und sind gerne in Gruppen eingebunden. Mitglied einer Clique zu sein ist geradezu essentiell. Persönliche Interessen werden dabei hinten angestellt. Das beginnt im Kindergarten und setzt sich bis ins Berufsleben weiter fort.
Aber auch auf anderen Lebensbereiche hat dieses Harmoniestreben Auswirkungen. Zum Beispiel sind in Japan mehrere Ratgeber zu dem Thema „Erster Besuch im Park mit dem Neugeborenen“ erschienen, die von der Kleiderordnung bis zum Eröffnungsgespräch Hilfestellung geben, damit die junge Mutter in die Gemeinschaft der anderen jungen Mütter aufgenommen wird.
Mit dieser Art der Anpassung an die Gruppe geht natürlich ein gehöriges Maß an Individualität verloren. Die Harmonie geht so weit, dass man niemals das Wort „Nein“ in einem Gespräch verwenden würde. Obwohl es existiert. Ein japanischer Gesprächspartner wird auf Grund dieses Harmoniebedürfnisses immer versuchen eine Verneinung in höfliche, für einen Menschen westlicher Prägung nicht leicht zu durchschauende Formulierungen zu packen.
Vor diesem Hintergrund kann man sich die tiefe persönliche Krise erklären, in die Tsukuru nach dem Ausschluss aus der Gruppe verfällt. Auch Tsukurus lange Beschäftigung mit der Möglichkeit des Selbstmordes ist ein in der japanischen Gesellschaft weit verbreitetes Phänomen. Leistungsdruck und Schikanen werden als häufigste Gründe für den Selbstmord von Schülern angesehen. Japan ist das Land mit der höchsten Selbstmordrate.
Dass Murakami diese Thematik in „Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki“ aufgreift und schlussendlich auch Lösungswege für diese Problematik aufzeigt, mag einer der Gründe dafür sein, dass dieses Buch zu einem der am besten verkauften Büchern in Japan wurde.
Nachts vom Deck eines Schiffes ins eiskalte Meer geworfen
Nachts über Bord eines Schiffes gestoßen zu werden und sich in einem eisigen Ozean treibend wieder zu finden, ist ein Vergleich, der an verschiedenen Stellen des Buches auftaucht, und nicht nur den Ausschluss aus der Gemeinschaft, sondern den Individuationsprozess ganz allgemein treffend beschreibt, gleichzeitig auch die Furcht erklärend, die viele Menschen vor diesem Schritt haben. Aber es gibt Hoffnung. Gegen Ende des Buches bemerkt Tsukuru:
„Die Gefahr liegt hinter mir. Ich habe die Fähigkeit, nachts allein auf dem Meer zu treiben, ohne unterzugehen.“
Symbolik
Murakami bedient sich in „Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki“ an verschiedenen Stellen der Symbolik der japanischen Mythologie und Mystik. Bei den bereits angesprochenen Farben, handelt es sich um die vier Farben, die im Kojiki, der ältesten erhaltenen japanischen Schrift aus dem 8. Jahrhundert, vorkommen. Das Kojiki ist eine Chronik der Geschichte Japans, in der sich historische und mythologische Fakten vermischen. Die Anzahl der fünf Freunde und daneben die Bezeichnung „farblos“ erinnert mich dagegen an die 5-Elemente-Lehre japanischer Ausprägung, wie sie im Gorin no Sho, dem Buch der fünf Ringe von Miyamoto Musashi aus dem 17. Jahrhundert auftreten. Neben den vier auch in der abendländischen Mythologie bekannten Elementen Wasser, Erde, Feuer, Luft, fügt das Buch der fünf Ringe noch das Element der Leere hinzu und assoziiert dieses mit dem, im Vergleich zu den materiellen Elementen eher spirituell anmutenden Konzept der Intuition, im Gegensatz zu einem Verhalten, das sich an Regeln ausrichtet. Auch in „Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki“ verwendet Murakami wieder ein musikalisches Thema, das er an verschiedenen Stellen erscheinen lässt. Es handelt sich dabei um das Stück „Le mal de pays – Heimweh“ von Franz Liszt aus der Sammlung „Années de pèlerinage – Pilgerjahre“, namensgebend auf jeden Fall für den Titel des Buches. Hier zum Anhören bei Youtube:
https://youtu.be/Y-oZPh3LzNg
Fazit
Murakami ist mit diesem Buch wieder ein großer Wurf gelungen. Zweifelsohne.
Trotzdem bekomme ich beim Lesen immer wieder Bedenken. Nicht was das Buch an sich angeht. Es ist die Frage, ob dieses Buch aus dem japanischen Kulturkreis herausgenommen, übersetzt und schließlich hierher in unseren Kulturkreis verpflanzt, überhaupt noch die Eigenschaften aufweist, die es im Original hat.
Vieles, was in diesem Buch angesprochen wird scheint mir nur für Menschen, die die japanische Kultur aus eigener Anschauung, sei es weil sie dort geboren und aufgewachsen sind oder sich zumindest lange Zeit damit beschäftigt haben, verständlich. Fast möchte ich mich trotzdem dem recht überschwenglichen Rezensionisten der Rheinischen Post anschließen, den ich mir hier zu zitieren erlaube:
„Die Herren, die über die Nobelpreise entscheiden, sollten dringend dieses Buch lesen. Sie finden es, wenn sie in der Bibliothek das Licht löschen. Murakamis Bücher sind die, die im Dunkeln leuchten.“
In Anbetracht der Einwände, die ich oben aufgeführt habe, scheint es mir zweifelhaft, dass diese Herren das Leuchten überhaupt wahrnehmen können, zumal in der erwähnten Bibliothek wohl etliche andere leuchtende Werke zu finden sein dürften.
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Sonst noch so
Bedeutung der Farben in Japans Mythologie: http://www.tofugu.com/japan/color-in-japan/